Das Märchen von der Alma Mater
"Eine Geschichte, eine Geschichte!", riefen die Kinder unisono und Digbert Gräber lächelte seine Frau an. Rosalind ließ ihre Grübchen aufblitzen und stemmte die Hände in ihre wohlgeformten Hüften. "Wenigstens einmal könntet Ihr Kinder auch mal ohne Geschichte ins Bett gehen, schließlich seid Ihr alt genug.", schimpfte sie, wenn auch nicht sonderlich ernst gemeint.
Dogo, Lilienna und Elena sahen ihre Mutter erst mit großen Augen an, dann jubelten sie, als Digbert den großen Folianten von seinem Platz auf der Kommode nahm und sich einen Hocker zurechtrückte.
"Welche Geschichte soll es denn sein?", fragte er, schob einen Finger in den Folianten, klappte ihn auf und sah scheinbar interessiert Lilienna an, die nicht nur die Älteste der drei, sondern auch die Rädelsführerin zahlreicher Abenteuer und Streiche war. Holger Hagebutte raufte sich noch immer die Harre darüber, dass sein preiswürdiges Blumenbeet Opfer einer räuberischen Bande von Kaninchen geworden war, kaum dass er Lilienna den neuen Ball kaputtgemacht hatte.
Und das bloß, weil der Ball in das berühmte Beet geplumpst war, wie das zierliche Halblingsmädchen seiner Mutter entrüstet erklärt hatte. Digbert hatte mit Holger gesprochen und wusste daher, dass Holger auf die Vertreter des Gartenvereins vom Lieblichknuffeltal wartete, die sein Beet auszeichnen und ihn zum Ehrenmitglied machen sollten. Und ein Ball, der von "Diesem unvernünftigen Kind und seiner Saubande!" in das Beet geworfen wurde, war dem natürlich abträglich.
Aus irgendeinem Grund war in Laufe des folgenden Tages aber dann ein Kaninchen nach dem nächsten über den Garten hergefallen als Herr Hagebutte im Gasthaus weitschweifig über die Vortrefflichkeit seiner Blumen berichtete.
Die Blumen waren wirklich vortrefflich gewachsen, das befanden auch die Kaninchen, und wohlschmeckend dazu. Lilienna hatte der verhaltenen Frage ihrer Eltern, ob sie irgend etwas über diese überraschende Invasion wisse nur gefragt, ob sie nicht ein Kaninchen haben könne. Sie würde es auch mit Löwenzahn und nicht mit Blumen füttern.
"Die Geschichte der Alma Mater!", rief Lilienna und Rosalind murmelte: "Welche Überraschung." Sie sah, dass Digbert den Folianten schon an der entsprechenden Stelle aufgeschlagen hatte. Er räusperte sich und sagte dann:
" Es war einmal ein altes Land, in dem lebten ein König und eine Königin. Der König war ein weiser und reicher Mann und er liebte sein Königreich genauso wie seine Königin. Wie es sich für einen richtigen König gehört, hatte auch dieser König eine Krone und einen Diener.
Die Untertanen des Königs waren große Leute und sie waren sehr fleißig und brav. Das ärgerte den Trollkönig, der in den hohen Bergen hauste, denn seine Trolle waren zwar groß aber auch faul und dumm. Sie rauften ständig und hatten nur Unsinn im Kopf und deswegen fiel dem Trollkönig auch immer wieder mal etwas auf den Kopf.
Da dachte sich der Trollkönig, dass doch die Menschen bestimmt irgendeinen Zauber benutzen würden, der sie so brav und fleißig machte und sie zogen nachts hinaus in die Dörfer der Menschen und fragten sie.
"Ho!", sagten die Menschen, denn die Menschen sagen immer "Ho!", wenn sie eine Frage verwirrend finden oder nicht verstehen, "Ho, das lernen wir bei unserer Mutter." Das fanden die Trolle seltsam, denn Trolle haben keine Mutter, sondern sie werden aus Stein geboren.
Also fragen sie die Menschen, wer denn ihre Mutter sei. "Ho!", sagten da die Menschen, denn die Frage war wirklich sehr verwirrend. Jeder hat ja seine eigene Mutter. "Ho, jeder hat doch eine Mutter.", versuchten sie zu erklären. Da sagten die Trolle, sie hätten keine Mutter. "Ho", sagten die Menschen, "Und wer kocht für Euch?"
"Niemand", sagten die Trolle und weil sie eben Trolle waren fraßen sie die Menschen.
Der Trollkönig war grantig, als er davon erfuhr, denn die Menschen würden ihnen ja nun das mit der Mutter nicht mehr erklären wenn sie in den Bäuchen der Trolle waren und deswegen haute er jedem Troll mit seiner Königskeule auf den Kopf, so lange bis ein Troll tot umfiel und die anderen den Menschen aus dem Troll befreien konnten.
Wie Ihr Euch denken könnt, hatte der Mensch furchtbare Angst vor den Trollen und traute sich nicht mehr, irgendwas zu sagen. Da wurde der Trollkönig richtig wütend und fragte den Menschen, wo den seine Mutter sei.
Der Mensch sagte, seine Mutter schon lange fort und er lebe nun alleine im Reich des Königs. Da fragte der Trollkönig, ob denn der König eine Mutter habe, denn er wollte auch eine Mutter haben um sein Reich endlich so gerecht und weise zu regieren wie der König der Menschen. Aber der gefangene Mensch sagte, der König habe keine Mutter, aber seine Königin und diese sei, wenn man so wolle, die Mutter des Reiches.
Da befahl der Trollkönig die Königin der Menschen zu entführen.
Der König der Menschen weinte bitterlich, als er am nächsten Tag feststellte, dass die Königin entführt war. Der Diener des Königs versuchte den König zu trösten und sagte, dass der König eben die Königin befreien müsse. Da jammerte der König, er sei doch der König. Und Ihr wisst ja, Könige ziehen nicht aus auf Abenteuer und befreien Königinnen aus der Hand von Trollen, sondern sie regieren indem sie auf ihrem Thron sitzen und eine Krone auf dem Kopf tragen.
Da fiel dem klugen Diener eine Geschichte von einem kleinen Volk ein, dass die Menschen Halblinge nennen. Er dachte: "So klein wie diese Wesen sind können sie bestimmt zu den Trollen gehen und unbemerkt die Königin befreien."
Also suchte er die Halblinge und er wanderte viele Tage über Berg und Tal, aber schließlich fand er die Halblinge und er wurde zu einer jungen Frau geführt, welche die Halblinge die "Nährende Mutter" nennen, die "Alma Mater". Und der Diener erklärte den Halblingen die Notsituation und die Alma Mater versprach, mit einigen ihrer eigenen Büttel loszugehen und die Königin zu befreien.
So zogen sie los und die Alma Mater dachte bei sich, dass sie bestimmt eine List brauchte, um die Trolle reinzulegen. Also schlich sie vorsichtig alleine in die Höhle der Trolle, als alle Trolle schliefen. Ihr müsst wissen, Trolle sind nicht nur groß, stark und dumm, sondern sie mögen auch das Sonnenlicht gar nicht, denn es verwandelt sie wieder zurück in Stein aus dem sie ja geboren sind.
Sie ging zu der Königin, die in einem Käfig in der Höhle war und weil sie so klein war, passte sie durch die Gitterstäbe und konnte zur Königin gelangen. Diese war ganz aufgeregt und erzählte natürlich leise flüsternd, dass die Trolle sie entführt hatten, damit sie ihnen als Mutter sagen konnte, wie sie klug und stark und fleißig und reich werden würden. Da hatte die Alma Mater einen klugen Einfall.
Am nächsten Abend, als die Trolle erwachten, sagte die Königin zu den Trollen, dass sie in der Nacht eine Tochter gemacht habe, damit die Trolle immer eine kluge Königin hätten, die ihnen sagen könne was sie fleißig und brav machte.
Da war der Trollkönig froh. Er ließ die Königin frei die sofort von den Halblingen nach Hause geführt wurde, nur die Alma Mater blieb bei den Trollen zurück.
Und sie sagte zu dem Trollkönig, dass man ein starkes Königreich immer an einem großen Schloss erkennen könne und der König befahl den Trollen, ein Schloss zu bauen. Als es fertig war versprach die Alma Mater den Trollen, ihnen in der nächsten Nacht zu zeigen, wie sie reich werden können, und die Trollen waren fröhlich und feierten und schliefen alle berauscht in der Halle des Trollkönigs ein.
Am Tag aber kamen die Halblinge, befreiten die Alma Mater aus ihrem Käfig und stahlen alle Dachziegel des Schlosses. So schien die Sonne in die Halle und alle Trolle wurden zu Stein.
Die Alma Mater aber war gerettet und die Halblinge gingen in das Reich der Menschen. Der König war sehr froh, die Halblinge zu sehen und schenkte ihnen ein eigenes Königreich. Und das, meine Kinder, ist das Seenland in dem wir heute noch wohnen."
Digbert schloss das Buch und blies die Kerze auf dem kleinen Tisch aus. Er nahm seine Rosalind an der Hand und gemeinsam verließen sie das Zimmer und gingen tiefer in den Wohnbereich der Höhle hinein. Und wenn sie nicht gestorben sind….